“Plastikpiraten” decken auf, wie viel Müll in unseren Flüssen treibt

“Plastikpiraten” decken auf, wie viel Müll in unseren Flüssen treibt

Fließgewässer spielen bei der Verbreitung von Makro- und Mikroplastik eine zentrale Rolle. Im Citizen Science-Projekt „Plastic Pirates – Go Europe!“ haben Jugendliche seit 2016 mehr als 1000 Datensätze zum Vorkommen von (Plastik-)Müll in Flüssen zusammengetragen. Dabei wenden sie standardisierte Methoden an, damit die Ergebnisse vergleichbar und somit wissenschaftlich nutzbar sind.

Eine der größten Herausforderungen für die Umweltforschung lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Daten. Entwicklungen wie die Verschmutzung von Gewässern und Böden mit Plastik kann man im größeren Maßstab erst dann beurteilen, wenn man über großflächig und langjährig gesammelte Daten verfügt. Zum Beispiel, wieviel Plastikmüll über die Flüsse in die Meere gelangt: Das könnten jährlich bis zu 3 Millionen Tonnen sein, erläuterte Tim Kiessling von der Kieler Forschungswerkstatt beim Webinar „Wissenschaft zum Mitforschen: Einblicke in und Ergebnisse aus dem Citizen-Science-Projekt ‚Plastic Pirates‘“ am 13. Januar 2022. Kiessling bezog sich dabei auf Forschungserkenntnisse, die bereits im Jahr 2017 veröffentlicht wurden (Lebreton et al. & Schmidt et al.).

Doch weitreichende, belastbare Zahlen gibt es bislang kaum. Schließlich müssten Kunststoffeinträge an möglichst vielen Punkten erfasst und beschrieben werden. Hier kommen die „Plastikpiraten“ ins Spiel: Ziel des vor sechs Jahren als Initiative des BMBF gestarteten Citizen Science-Projekts „Plastic Pirates – Go Europe!“ ist es, Daten zur Müllverschmutzung an und in Flüssen zu sammeln und dabei gleichzeitig die Begeisterung für Forschung bei den mitmachenden Jugendlichen zu wecken. Eine Projektteilnahme soll die jungen Menschen außerdem für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisieren, sie anregen, über ihr eigenes Konsumverhalten nachzudenken und Verhaltensänderungen anstoßen. Die Informationen und Daten werden von den Teilnehmenden an das Koordinationsteam der Kieler Forschungswerkstatt übermittelt, dort dann gesammelt, aufbereitet und online zugänglich gemacht – und natürlich auch wissenschaftlich genutzt. Seit Beginn des Projekts haben bis heute mehr als 18.000 Jugendliche an über 1000 Standorten in ganz Deutschland, aber auch seit 2020 in Slowenien und Portugal zahlreiche Flüsse auf ihre Verschmutzung durch Müll untersucht.

Während der Datenerfassung ist ein standardisiertes Vorgehen enorm wichtig, um die wissenschaftliche Vergleichbarkeit der erhobenen Daten zu sichern. Um die Komplexität der Probenahme möglichst gering zu halten, ist die Erhebung der Daten deshalb auf vier unterschiedliche Gruppen aufgeteilt. Alle erfassten Müllteile werden nach dem Sammeln von den Jugendlichen fotografisch festgehalten. Dieser Schritt ist entscheidend, denn anhand der Fotos werden die erhobenen Daten später durch die Kieler Forschungswerkstatt verifiziert.

Gruppe A: Müll am Flussufer: Hier geht es darum, Aufschluss über die Menge und Zusammensetzung des Mülls je Quadratmeter Flussufer zu erhalten. Auf einer Strecke von 50 m nutzen die Jugendlichen eine standardisierte Methode zur Probenahme, die Transekt-Kartierung, und untersuchen drei zufällig ausgewählte Transekte mit jeweils drei Beprobungen. Dabei gliedert sich das Flussufer in drei Zonen: der Flussrand (regelmäßiger Kontakt zum Fluss), die Flussböschung (unregelmäßiger Kontakt zum Fluss) sowie die Flusskrone (kein Kontakt zum Fluss), jede Uferzone wird beprobt.

Gruppe B: Müllvielfalt am Flussufer: Wie setzt sich der Müll entlang des Flussufers zusammen und zu welchem Anteil besteht der gefundene Müll aus Einwegplastik? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Jugendlichen der Gruppe B. Sie suchen hierfür das gesamte Flussufer nach Müllteilen ab, bis zu einer Entfernung von maximal 20 m zum Fluss. Die abgesuchte Fläche wird anschließend vermessen. Der gefundene Müll wird sortiert, quantifiziert, gewogen und der jeweilige prozentuale Anteil an Einwegplastik berechnet.

Gruppe C: Treibender Müll: In dieser Gruppe fokussieren sich die Jugendlichen auf die Makro- und Mikroplastikverschmutzung im Fluss. Die Probenahme erfolgt mithilfe eines speziell angefertigten Netzes (Maschenweite = 1 mm). Das Probenmaterial wird getrocknet und die Probe zur eindeutigen Identifizierung der gefangenen Partikel mittels FTIR-Spektroskopie in das Labor der Kieler Forschungswerkstatt gesendet. Um die Mikroplastikverschmutzung in der Auswertung einordnen zu können, ermitteln die Jugendlichen zudem die Fließgeschwindigkeit des Flusses sowie die Menge an Makromüll, die auf der Flussoberfläche treibt: Über einen Zeitraum von einer Stunde wird der vorbeitreibende Müll von den Jugendlichen fotografiert, später identifiziert und quantifiziert.

Gruppe D: Reporterteam: Die Jugendlichen in dieser Gruppe suchen in der Nähe des Flussufers nach potenziellen Müllquellen. Als Hinweise dienen beispielsweise überfüllte Mülltonnen, eingeleitete Abwässer oder Reste vom Grillen. Ebenso diskutieren die Jugendlichen über mögliche Ereignisse, etwa Starkregen oder größere Veranstaltungen, die zur Verschmutzung am Flussufer beigetragen haben könnten. Ergänzend werden Personen wie beispielsweise Spaziergänger*innen oder Anwohner*innen von den Jugendlichen interviewt.  

In der Praxis hat sich herausgestellt, dass einige der nach Kiel gesendeten Erhebungsergebnisse leider aussortiert werden müssen. Trotzdem würde im Projekt eine prima Quote für von Laien erhobenes Material erreicht – gleichzeitig sei es aber auch schade für all jene Gruppen, deren Mühen nicht in das Projekt mit einfließen, findet Tim Kiessling. Das Hauptproblem: die wissenschaftliche Anerkennung. Nur Datensätze, die den hohen wissenschaftlichen Standards genügen, werden genutzt. „Häufig fehlen Fotos, mit deren Hilfe wir die Informationen verifizieren können, und dann sind die Daten leider nicht nutzbar“, sagte der Forscher. Dennoch ist der Datenschatz inzwischen so groß, dass das Team bereits mehrere wissenschaftliche Publikationen veröffentlichen konnte. „Auch wenn einige Daten nicht in die wissenschaftliche Auswertung einfließen können, schärfen die Teilnehmenden ihr Umweltbewusstsein und bekommen einen Einblick in wissenschaftliche Arbeitsabläufe. Das könnte auch das Vertrauen in wissenschaftliche Studien stärken. Deswegen ist eine Teilnahme am Projekt in jedem Fall sinnvoll“, findet Sinja Dittmann, ebenfalls Wissenschaftlerin in der Kieler Forschungswerkstatt.

Über die Ergebnisse der Plastikpiraten, soweit sie bislang ausgewertet wurden, berichten wir in einem der kommenden Blogbeiträge.

*Das Webinar war Teil einer Reihe des Forschungsschwerpunkts Plastik in der Umwelt. Das nächste Webinar findet voraussichtlich am 1. März 2022 statt und widmet sich dem Thema Mikroplastik im Abwasser.

**Foto: © BMBF/Gesine Born

***Text: Sinja Dittmann, Tim Kiessling, Wiebke Peters

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